Nonlineare Zukunft der Belletristik? Eine Reflexion über verschenkte Möglichkeiten

Ich fantasiere seit Langem über einen WhatsApp-Roman – so etwas wie den modernen Briefroman. Mir schien nur die Form „Roman“ immer unangemessen. Denn im Gegensatz zum weitgehend linearen Brief des 19. Jahrhunderts, ist die WhatsApp-Kommunikation zumindest bei mir immer massiv durchsetzt mit Kommunikation in anderen Kanälen. In WhatsApp wird zum Thema, was telefonisch, persönlich, über andere Netzwerke reinkommt und rausgeht. WhatsApp ist eben nur ein Kanal unter vielen, während der Brief zum Handlungszeitpunkt des Briefromans häufig der einzige Kanal war und höchstens im Voraus oder im Nachhinein ein persönliches Treffen thematisierte.  Trotzdem erzählt ein Gesprächsprotokoll manchmal eine tolle Geschichte. (Und sicherlich denkt nun jeder Leser, ganz zurecht, an eine Liebesgeschichte.) Die WhatsApp-Kommunikation ist gekennzeichnet durch Querverweise und Kontingenz. Ich schicke sechs Nachrichten mit verschiedenen Inhalten, bekomme aber nur auf zwei der Inhalte eine Antwort, während vier Themen unwidersprochen stehen bleiben und drei neue aufgemacht werden. Es ist schnelle, direkt Kommunikation, häufig sich zeitlich überschneidend. Wie bildet man das ab? Das Gehetzte, Spontane dieser Kommunikation? (Analoges gilt natürlich für SMS- und Handyromane.)

Nonlinear ist ja nicht ganz neu

Ein anderes Feld: Ich bin leidenschaftlicher Rollenspieler. Mit Rollenspielen bzw. verwandten Themen haben sicherlich viele Leute durch „Entscheidungsbücher“ Erfahrungen gemacht, also Bücher, in denen der Leser in die Geschichte eingebunden wird, indem er Entscheidungen trifft. „Wenn du dem linken Pfad folgst, lies weiter bei Kapitel 181. Wenn du rechts herum gehst, lies weiter bei Kapitel 17.“ Die Struktur des Plots und die Form des Buches übernehmen die Rolle des Spielleiters, der den Spielern sagt, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen haben. Seit Jahren finde ich spannend, wie weit die alten Hypertext-Ideen in ihrer Dynamik gingen. Bei Vannevar Bush angefangen. Und es enttäuscht mich immer wieder, wie weit die heutigen Umsetzungen von digitalem Lesen dahinter zurückfallen, welche Möglichkeiten verschenkt werden. Diese Ideen würden auch meine Idee eines Chat-Protokoll-Romans möglich machen. Warum sind eBooks nur langweilige Reproduktionen von Printbüchern? Ich gebe zu: eReader haben auch Vorteile, wenn man sie nur als umfangreiche, leichte Riesen-Bibliothek mit sich führt. Aber sie könnten so viel mehr. EPUB 2, das lineare eBook-Format, und die heutigen Reader, die ebenfalls kaum mehr als lineare Texte abbilden können (der Tolino beherrscht ja nicht einmal Links), sind nicht innovativ. Letztlich braucht niemand eine Buch-Kopie in digitaler Form. Das Medium Buch ist toll, in dem, was es kann. Das eBook wird sich nur durchsetzen, wenn es darüber hinaus geht.

Der WhatApp-Roman auf dem Tablet: Die Zukunft?

inkleUnd hier kommen die Gedanken zusammen: Was wir brauchen, sind innovative „enhanced“ eBooks und Geräte, die sie darstellen können. WhatsApp-Romane auf Tablets zum Beispiel. Daher ist Amazons Richtung, das eReading mit dem Kindle Fire in Richtung Tablets zu entwickeln, ein wichtiger und richtiger Schritt (den Apple ja bereits gegangen ist). Wenn mir in den kommenden Tagen Zeit bleibt, werde ich das in o.g. Artikel erwähnte Tool inkleWriter einmal ausprobieren, um eine kleine nonlineare Story „zu Papier“ zu bringen.EPUB 3 als Exportformat wird zwar noch nicht breit unterstützt – aber wir müssen ja die Hoffnung nicht aufgeben …

Was denkt ihr? Denke ich noch zu konservativ und textlastig? Oder zu innovativ, weil es für diese Inhalte und Formen keine Zielgruppe gibt? Habe ich Experimente (gerade aus dem Bereich Interactive bzw. Transmedia Storytelling) übersehen?

6 Gedanken zu „Nonlineare Zukunft der Belletristik? Eine Reflexion über verschenkte Möglichkeiten“

  1. Hi,
    ich finde deine Gedankengänge sehr anregend. Auf der letzten Frankfurter Buchmesse waren einige Ideen zur „Zukunft des Ebooks“, die du hier auch ansprichst ein großes Thema. Ich habe aber dort bei einigen Diskussionen und auch hier in deinem Text wieder festgestellt, dass das größte Problem der Branche die Bildung zweier Lager ist, die sich fast schon feindlich gegenüberstehen. Die einen sagen – wie du – lineare Ebooks als reine Reproduktionen braucht kein Mensch und die anderen sagen der ganze digitale „Spielkram“ sei quatsch, wenn es um Bücher gehe. Ich glaube, dass die Zukunft des Buches in der Annäherung dieser Lager besteht.
    1. Brauchen wir Ebooks als reine Reproduktionen? Ich würde deine Frage mit einem herzhaften JA beantworten. Man beobachtet leider immer wieder, dass Buchmenschen eher konservativ veranlagt sind. Sie konzentrieren sich gerne stundenlang einsam in einem Zimmer auf linear erzählte Geschichten, genießen dabei englische Tees und den Geruch von altem Papier. Wollen wir (E-)Bücher verkaufen, so müssen wir auch diese Kernkunden erreichen. Wie bekommen wir das hin? Indem wir versuchen das Ebook so faszinierend papiernah zu gestalten, dass selbst konservative Leser beeindruckt sind, z.B. vom Geräusch der umblätternden Seiten. Dabei merken sie kaum mehr, dass sie gerade von einer reinen technischen Spielerei verführt wurden. Rationale Argumente wie z.B. die Speicherkapazität kommen hinzu und schon gibt es einen neuen Ebook-Kunden. Das besonders schöne an diesem Kundentyp ist, dass er immer noch weiter Printbücher kaufen wird.
    2. Warum werden Ebücher als reine Reproduktionen gefertigt? Nun, das ist ja fast schon selbsterklärend, es ist eben ein relativ günstig herzustellendes Extra mit relativ großer Gewinnspanne, da Materialkosten entfallen und der Preis nicht wesentlich unter der Printausgabe liegen darf. Eine win-win-Situation würde ich mal behaupten 😉
    3. Warum gibt es (noch) so wenige Hypertext-Ebooks? Du deutest das in deinen Gedanken schon an. Nicht alle Lesegeräte machen diese Innovationen mit und außerdem müsste ein solches Ebook als eigenes Werk erstellt werden. Der Herstellungsprozess wäre ein ganz anderer und ist im klassischen Verlagswesen noch nicht wirklich zu finden. Was macht der Autor, was der Verlag und mit welcher Software? Schreibt der Autor nur Hinweise wie [Verlinkung zu Seite/Homepage/… einfügen] oder erstellt er alles selbst. Wenn er alles selbst erstellt, auf welche Weise wird es dann im Verlag lektoriert und redigiert?
    Insgesamt glaube ich eher, dass mit der Entwicklung eines neuen Genres zu rechnen sein kann als mit einer „Zukunft des Lesens als nonlinear“. Du erwähnst auch, dass viele Ideen zum Thema Hypertext gar nicht neu sind und da muss ich dir komplett Recht geben. Hypertextualität findet beim Lesen immer statt – unabhängig davon, ob der Text mit Hypertexten versehen ist. Angefangen bei der Intertextualität fängt Hypertext doch schon dort an, wo im Kopf des Lesers ein Text mit einem anderen „verlinkt“ wird. Auch, wenn der Leser dann kurz unterbricht und zum Regal geht und nochmal nachschlägt ist der eigentliche Vorgang der gleiche wie in einem Ebook auf einen Link zu gehen und dort kurz weiterzulesen, um die Verknüpfung wieder präsenter zu machen. Auch ein kurzes Nachschlagen bei Wikipedia während man eigentlich ein Ebook liest kann hypertextlich organisiert werden. Das ändert nichts an der eigentlichen Linearität des Lesevorgangs. Selbst wenn man wie in deinem Beispiel selbst entscheidet, auf welcher Seite man weiterlesen möchte, bleibt eine gewisse Linearität des Lesevorgangs erhalten. Was du mit dem Rollenspiel auch ansprichst ist die Möglichkeit einer levelbasierten Erzählweise wie im Spiel. Aus dem Spielverlauf ergibt sich die Geschichte. Und auch, wenn man mit jedem erneuten Spiel eine neue Geschichte entstehen lässt, so bleibt die Einzelerzählung doch linear.
    Lässt sich die Gleichzeitigkeit und Schnelligkeit der Kommunikation, die du für WhattsApp beschreibst tatsächlich in eine Erzählung übertragen? Ich bin mir da nicht so sicher, da ich den Eindruck habe, dass das Erzählen an sich auch immer eine gewisse Linearität erschafft. Wenn wir etwas erzählen, stellen wir logische Bezüge her, wo im Alltag nicht immer welche sind. Der Genuss einer Erzählung besteht ja oft gerade darin, dass sie nicht so beliebig ist wie der Alltag und dadurch Sinn erschafft.
    Und bevor ich gleich endlich mal aufhöre deine Gedanken hier breit zu treten (sorry 🙂 aber das ist wirklich ein interessantes Thema) möchte ich noch kurz darauf hinweisen, dass Erzählen etwas sehr traditionelles ist. Das, was du hier als „lineare Erzählweise“ voraussetzt, ist tief in unserer Kultur verwurzelt. Nimm zum Beispiel die orientalische Erzähltradition und du wirst den Eindruck bekommen, dass hier viel weniger linear erzählt wird und das seit tausenden von Jahren. Es gibt zwar auch hier immer einen Anfang und ein Ende und damit eine gewisse Linearität, aber es gibt eigentlich keine Mitte, kein Climax oder so im Zentrum. Statt dessen wächst eine Geschichte aus einer Geschichte aus einer Geschichte aus einer Geschichte usw. Manchmal verweilt man so lange in den Verzweigungen, dass man sich kaum noch an die Ursprungsgeschichte erinnert zu der man dann plötzlich zurückgeführt wird. Ich habe schon oft von europäischen Lesern gehört, dass sie sich mit dem Original dieses Weltliteraturklassikers doch etwas schwer tun.
    Letztendlich bleibt die Frage danach, wie sich unser Erzählen entwickelt also immer auch die Frage danach, was wir eigentlich vom Erzählen erwarten. Medien sind dabei eher sekundär und wohl nicht weniger als das Mittel zum Zweck, eine gute Erzählung zu schaffen.
    Herzliche Grüße und vielen Dank für diesen Gedankenanstoß,
    Mareike

  2. Hi Mareike,

    danke für das ausführliche Feedback und die ebenfalls sehr interessanten Denkanstöße!

    Vielleicht erwarte ich zu viel, bzw. vielleicht erwartet die „Buchmenschen“-Zielgruppe für meinen Geschmack zu wenig. In meinen Augen ist das Buch als solches eben schon ein fast perfektes Medium für seine Inhalte – digitale Bücher finde ich höchstens interessant, weil ich Buchinhalte in großer Masse mit mir tragen kann. Ob die Gewinnspanne jeweils so hoch ist, ist allerdings fraglich … die wesentlichen Kosten fallen ja nicht für die physische Produktion von Auflagen an. Und dass Kunden nicht bereit sind, einen Preis zu zahlen, der „nicht wesentlich unter der Printausgabe liegen darf“, bezweifle ich. eBooks sind viel zu teuer.

    Dass die Lesegeräte Hypertext-eBooks verhindern, sehe ich als klares Argument gegen diese Geräte. Sie können einfach zu wenig – daher sehe ich die Zukunft des, nennen wir es einmal „power eReading“, in Tablets. Workflows für das lektorat von Hypertext-Romanen werden sich finden, da bin ich recht zuversichtlich. Was HT-Bücher in meinen Augen auszeichnet ist im Übrigen die „immanente Hypertextualität“, so paradox das klingt: Der Weg zum Bücherregal oder Webbrowser ist nicht „Hypertext“, sondern Leseverhalten. Das ist ja nicht im Buch angelegt. Der Link zur Wikipedia wäre im Text angelegt.

    Klar bleibt das Leseerleben immer linear: Ich kann nur eine lineare Ereignisabfolge rezipieren. Aber wie starr diese Linearität ist – darüber entscheiden die Möglichkeiten des Mediums! Daher denke ich, du hast recht: Medien sind Mittel zum Zweck des Geschichtenerzählens. Aber deswegen sind sie gerade primär, komplementär zur Geschichte, und nicht sekundär!

    Viele Grüße

    Dennis

  3. Lieber Herr Schmolk,

    leider lese ich Ihren äußerst interessanten Beitrag erst jetzt, sonst hätte ich sie nämlich schon eher auf einen dezidiert nonlinear aufgebauten Roman hingewiesen, den die ed[ition]. cetera vor gut einem Jahr veröffentlicht hat.

    Bei dem Buch handelt es sich um Francis Neniks vielgelobten Debütroman „XO“. Das Besondere: der Roman ist nicht gebunden, d.h. seine 853 Seiten liegen in Form von 427 losen Blättern in einer Kartonage. Man kann die einzelnen Kapitel – insgesamt sind es 125 – also nicht nur von vorn nach hinten, sondern auch durcheinander lesen. Dennoch handelt es sich dabei um einen klassischen Roman, der stilistisch äußerst vielfältig daherkommt und in der Tradition des non-linearen Erzählens wurzelt, d.h. eher puzzleartig denn chronologisch aufgebaut ist. Bisher hat das Buch sehr positive Rezensionen erfahren, u.a. im Freitag, auf Zeit-Online und im Deutschlandradio-Kultur.

    Neben den literarischen Eigenheiten gehen wir mit dem Buch aber auch hinsichtlich des Vertriebs eigene Wege, denn wir haben es – was in der hiesigen Verlagslandschaft bisher nur sehr selten versucht wurde – unter einer freien Lizenz veröffentlicht. Das Buch kann deshalb nicht nur in Papierform gekauft, sondern in seiner digitalen Version auch auf unserer Webseite komplett kostenlos gelesen und heruntergeladen werden. Und natürlich gibt es auch eine „Durcheinanderlesversion“ 🙂

    Aber am besten, Sie schauen einfach mal rein.
    Eine Reihe von Buchfotos, eine vom Autor verfasste Inhaltsangabe sowie den gesamten Roman finden Sie unter https://www.ed-cetera.de/ed-ition/fiction/francis-nenik-xo-roman/

    Wenn Sie noch Fragen haben, so melden Sie sich einfach bei mir. Es würde mich freuen.

    Mit herzlichen Grüßen aus Leipzig,
    Eyk Henze
    Leiter ed[ition]. cetera

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